Leseprobe: GRÜNER GEIST GEHT GEIL

... Spannend ist das! Es weitet mir den Horizont. Offenbar habe ich viel zu eng gedacht. Bisher war ich immer der Meinung, Leben dauere so etwa … na sagen wir größenordnungsmäßig zwischen Tagen und ungefähr einem Jahrhundert. Jedenfalls was die Lebensspanne einzelner Individuen betrifft. Vielleicht sollte ich nochmal drüber nachdenken. Auch über die Größendimensionen des Lebens. Das ist sicherlich interessant.

Aber ich habe den Eindruck, dass das alles zu abgehoben ist.

Ich meine, es ist natürlich eine Frage des Maßstabs. Ich kann mir eine Eintagsfliege anschauen oder eine hundertjährige Schildkröte. Da habe ich schon ungefähr den Rahmen, in dem sich Leben bewegt.

Für dich! Du setzt aber die Grenzen herzlich willkürlich, findest du nicht?

Mag sein. Aber was interessiert mich „Leben“, das in Gedankenschnelle entsteht und vergeht? Was interessiert mich ein Lebewesen, dessen Gefäßwände sich aus Galaxienhaufen zusammensetzen? Das hat nichts mit dem zu tun, was ich mir unter Leben vorstelle.

Ah ja, wir ahnen schon, worauf du hinaus willst. Du stellst deine Frage: Was ist Leben? und erwartest von uns die knappe Antwort: Alles, was eine DNS trägt.

Ok. So kannst du Leben definieren. Aber was ist eine DNS?


Das wäre aber doch ein bisschen zu simpel, oder? Ich stelle eine gravierende Frage, wie sie essentieller nicht sein könnte, und du gibst fünf Worte zur Antwort, das soll’s dann gewesen sein. Dann weiß ich’s aber auch!

Vielleicht hast du die falsche Frage gestellt, was meinst du?

Die falsche Frage?

Vielleicht solltest du lieber das Fragewort austauschen: Wie ist Leben?

Und dann? Ich kenne dich doch. Wenn ich so frage, wirst du mir sagen: Komm, lass uns nach draußen gehen, lass uns schauen. Was siehst du gerade, was hörst du, schmeckst du, fühlst du, riechst du jetzthier um dich herum. Ich hätte dann zu beschreiben, was gerade passiert, und du würdest mir nahelegen, so sei das Leben, wie sonst. Ich würde mir die Antwort selber geben. Aber ich will mehr wissen.

Du kannst nicht mehr wissen, als du-selbst weißt, das weißt du doch. Alles Wissen liegt in dir-selbst geborgen, denn du bist selbst in die Große Seele eingebettet.

Mal ehrlich. Wenn wir über das Leben reden, was steht denn da an erster Stelle? Müssen wir da nicht zu allererst über Sex reden?

Na endlich. Endlich hast du’s raus.

Nein im Ernst, mir ist schon klar, dass es ja auch Lebewesen gibt, die sich ohne Sex fortpflanzen, Amöben zum Beispiel. Aber Sex ist doch absolut wichtig. Wenn ich nach draußen gehe, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, ich brauche nur den Blick zu heben, und was sehe ich? Sex.

Die Litfaßsäulen protzen von prallen Busen, kaum ein Produkt wird ohne Anspielung auf Sex verkauft, und auch auf dem Bauernhof geht’s ab, ein einziges Fressen und Treiben! So ist es doch. Das ist das Leben. So ist Leben.

Es ist ein Aspekt des Lebens, ein deftiger Aspekt.

Ein wichtiger Aspekt, wenn nicht der wichtigste.

Der wichtigste Aspekt des Lebens ist die Liebe. Du sprichst aber nicht von der Liebe.

Sondern?

Von Geilheit. Von einem Gehilfen der Liebe. Ihr würdet sagen, von einem bösen Gehilfen. Früher hattet ihr das Wort Teufel dafür. Aber es gibt diesen Teufel nicht, es gibt auch nicht das Böse-an-sich. Über Werte haben wir doch schon im zweiten Band gesprochen.

Geilheit schwitzt das Leben aus allen Poren, sie dampft die brodelnde Brühe der notwendigen Reagenzien und dräut und drängt und gibt keine Ruhe, bis ES sich fortpflanzt. Ein grüner Geist geht geil! Fühle, spüre es!


Faun?

Nicht gut noch bös. Er ist in der Ordnung. Seine Augen sind dunkel und weit, sein lichtes, schwarzes Haar ist lang und kraus. Er ist unbändig. Er ist bekifft von Lust, und sein Atem raucht das Schwere leicht. Es riecht dir unmoralisch, nicht wahr?

Kenne ich den?

Nicht wahrhaben willst du’s. Aber schau um dich! Er lugt auf jung und alt, durch das Fenster der Villa, in die Bude des Studenten. Er streicht lechzend durch die Lenden von Michel, der mit Sandra verheiratet ist, er kräuselt die Brustwarzen von Rosi, wenn sie neben ihrem Freund im Bett liegt und an ihren letzten denkt, mit dem sie es gerne wieder täte. Das schmeckt dir nicht?

Unmoralisch! Lass uns das Thema wechseln.

Er kichert. Manchmal knabbert er am Schwanz des Herrn Pastor, dann wieder bläht er sich auf und klatscht krachend mit flacher Hand auf Afrika. Du willst es nicht hören!

Du bist unappetitlich. Garstig!

Er grabscht das triefende Dreieck der Frauen aus dem Senegal, die mit offenem Schoß und flinken Brüsten vor Touristen tanzen und beklemmt das Herz der Ehefrau, die dann für die Senegalesin herzuhalten hat … Du schaust weg!

Es reicht.

Ein grüner Geist geht geil. Er ist der mächtigste Gehilfe des schöpferischen Chaos, denn er allein vermag das unsichtbare Unbegreifliche, Wesentliche zu begreifen. Er ist verwandt mit der Seele …
Abtrünnig!

… wie es sich gehört. Giftiger Nebel, flüchtiger Trug umschliert unbarmherzig den Kontinent der Seele – er eifert vulkanische Gase in den Raum der Liebe, bricht Spalten ins Land, frisst Eigentum, verschlingt gleich die Kinder und erbricht sie säuerlich.

Hör auf! Schluss damit. Ich mag’s nicht mehr hören.

Warum nicht? – Nie nicht nirgends ist niemand sicher, es gibt kein Versteck. Er gilbt gar den Trauschein und höhlt Versprechen, noch ehe sie ausgesprochen sind. Denn Tropfen um Tropfen träufelt er liederlichs Hormon ins Blut, süße Sehnsucht pocht das Herz, treu zu sein nur ihm.

Du rüttelst an den Grundfesten unserer Gesellschaft.

Das ist richtig. So ist das Leben. Es rüttelt.

Eure Gesellschaft wäre eine bessere, heilsamere, lebendigere, wenn ihr Geilheit mit Zuneigung, Einsamkeit mit Gemeinschaft, Gewalt mit Verständnis erlösen würdet. Sie wäre eine höher entwickelte Gesellschaft, wenn ihr – nachdem die Anhaftung des Fleisches, das Kreuz der VIER, euer Schicksal ist – endlich von der ZWEI zur DREI gelangen könntet. Das ist euer langer Weg von der EINS zur EINS.

Wenn ihr das Leben mit aller Energie zur Liebe entwickeln würdet.

Statt dessen seid ihr gebannt vom sogenannten Teufel, ihr tanzt wie besessen um den goldenen Altar der Liebe, aber ihr versteht ihre Essenz nicht mehr, das Leben. Darum musst du ständig nach dem Leben fragen, statt zu leben. Statt zu leben, willst du wissen, was das Leben ist. Wer aber nach dem Wissen über das Leben fragt, ist vom Teufel besessen.


Ach nein. Sag nur! Du widersprichst dir selbst, findest du nicht? Eben sagtest du noch, es gibt nicht den Teufel, es gibt nicht den Tod und so weiter. Und jetzt? Jetzt auf einmal gibt es den Teufel doch. Wat denn nu?

Du solltest die Zusammenhänge nicht zerreißen. Wir sagten, es gibt keinen Teufel mit dem Namen Geilheit. Geilheit ist ein Geist, unter dessen verzehrender Flamme man leben kann, wenn man dies wählt.

Aber wenn ich dich richtig verstehe, behauptest du doch, dass Geilheit zerstört.

Geilheit ist der Ausdruck von großer Einsamkeit. Sie ist aber genau darum eine große Triebfeder dazu, das zusammenzubringen, was zusammengehört. Geilheit ist kein Teufel im Sinne von „dem Bösen“, weil sie ein Weg ist, auf dem Menschen suchen, ihr Leid subjektiv empfundener Verlorenheit zu lindern.

Oh ja, wie Recht du hast! Es gibt nichts Schlimmeres als die Einsamkeit. Die Zeit brandet von außen an die Festung, in deren Verlies du schmachtest. Die Melancholie nagt an dir. Wie es schön wäre, nicht jetzt hier zu sein, sondern in einer anderen Zeit, in der du wieder teilhast am Leben! Statt dessen vergeht die Zeit ohne dich. Du bist herausgerissen aus dem Jetzt, welches scheinbar ewig währt und doch nicht zu existieren scheint. Die Zeiger der Uhr schleichen von Sekunde zu Sekunde, und es passiert rein gar nichts zu deiner Erlösung. Davon kann ich ein Lied singen. Das möchte ich nicht mehr erleben.

Oh wie gut du die Zeit beschreibst, und wie schlecht. Es zeigt uns, wie wenig du verstehst. Wir sollten das mal klären.
...

Keine Kommentare: